Mit dem ehrgeizigen Projekt Catena-X digitalisieren wichtige deutsche Partner aus der Automobilindustrie gemeinsam ihre Wertschöpfungsketten mit der führenden niederländischen SCSN-Technologie. Nach Ansicht von Oliver Ganser (Catena-X/BMW) und John Blankendaal (SCSN/Brainport Industries) hebt diese Innovation aus Deutschland und den Niederlanden die europäische Industrie auf eine neue Ebene.
Wie die Frustration einer Gruppe niederländischer Unternehmer der Schlüssel zur digitalen Zukunft der deutschen Autoindustrie sein kann. 2015 setzten sich mehrere Unternehmer zusammen, um eine Lösung für die Schwierigkeiten der Hersteller zu finden, Daten auszutauschen. Die Unternehmen wissen oftmals nicht, wo ihre Daten bleiben, die Systeme sind nicht miteinander verbunden und Mitarbeiter verschwenden Zeit damit, Informationen in verschiedenen Systemen neu einzugeben. Eine Situation, die zu unnötigen Fehlern führt, Geld kostet und darüber hinaus auch noch unsicher ist.
Die Unternehmer wandelten diese Enttäuschung in ein Pionierprojekt um, das später den Namen Smart Connected Supplier Network (SCSN) tragen sollte. In diesem Zusammenhang entwickeln sie zwei Lösungen. Ein Nachrichtenstandard, der festlegt, welche Informationen in welchem Format ausgetauscht werden, und eine technische Infrastruktur, die definiert, wie die Informationen auf sichere und kontrollierte Art und Weise mit allen SCSN-Partnern ausgetauscht werden können. Über 100 niederländische Hersteller arbeiten inzwischen über SCSN. Auf Grundlage ihres Feedbacks wird die Technik verbessert und weiter ausgebaut.
Auch die deutsche Industrie tut sich schwer mit der gemeinsamen Nutzung von Daten, hat aber lange Zeit versucht, das Problem innerhalb ihrer eigenen Werksgrenzen zu lösen. In den letzten Jahren wurden Millionen in die Entwicklung proprietärer Systeme gesteckt. Da sie sich jedoch nicht mit der Software anderer Hersteller verbinden ließen, blieben sie ohne Erfolg.
Krise zwingt die Automobilindustrie zur Zusammenarbeit
Eine Krise sorgt für einen Umschwung, der über Werksmauern hinausgeht. Da die weltweiten Lieferketten durch die Coronapandemie zerfallen, erkennen die Hersteller, dass sie mit anderen Produzenten zusammenarbeiten müssen. Auch mit direkten Konkurrenten. Im Dezember 2020 kündigte die Crème de la Crème der Mobilitätsbranche die Gründung des Catena-X Automotive Network an.
Eine beeindruckende Liste von Unternehmen, die gemeinsam den Ehrgeiz bekunden, ihre Wertschöpfungsketten zu digitalisieren, umfasst die BMW AG, Mercedes-Benz AG, Volkswagen AG, BASF SE, Henkel AG & Co. KGaA, Deutsche Telekom AG, Robert Bosch GmbH, SAP SE, Siemens AG und ZF Friedrichshafen AG und viele weitere. Gemeinsam hoffen sie, auf diese Weise die Lieferketten digital in den Griff zu bekommen und so eine Wiederholung dieses Katastrophenszenarios zu verhindern.
Einige Monate später blockierte das Containerschiff „Ever Given“ wochenlang den Suezkanal, sodass noch weniger Teile und Rohstoffe aus Asien die europäische Industrie erreichten. Der entstandene Schaden wird auf 9 Milliarden US-Dollar geschätzt.
Dies unterstreicht die Überzeugung der Hersteller, dass die Warenströme über die gesamte Lieferkette hinweg digital rückverfolgbar sein sollten. Darüber hinaus erwartet die Branche, dass die Gesetzgeber in absehbarer Zeit Transparenz über die genaue Herkunft von Teilen und Rohstoffen fordern werden. Die Unternehmen müssen ihren CO2-Fußabdruck transparent machen und das ist nur möglich, wenn man jeden Chip und jede Batteriezelle digital bis zu ihrem Ursprung zurückverfolgen kann.
Diese Schlussfolgerung passt genau zu den Zielen von Catena-X, ein zuverlässiges, kooperatives, offenes und sicheres Datenökosystem für die Automobilindustrie zu schaffen. „Alle Akteure sind in end-to-end-gesicherten Wertschöpfungsketten vernetzt, in denen alle gleichberechtigt sind“, so beschreibt sich die Initiative selbst. „Die Interoperabilität von Anwendungen und die Datenhoheit sind wichtige Voraussetzungen für die Digitalisierung der gesamten Wertschöpfungskette, wobei alle Partner die Freiheit haben, den für sie am besten geeigneten Anbieter zu wählen.“ Catena-X wird damit zu einem wichtigen Bestandteil der europäischen Bemühungen um strategische Autonomie.
Deutsche und niederländische Innovationen bringen die europäische Industrie auf eine neue Ebene
Auf diese Weise finden Oliver Ganser und John Blankendaal zueinander. Ganser aus seiner Position als Vorstandsvorsitzender des Catena-X Automotive Network e. V. und Programmleiter Data Driven Value Chain bei der BMW AG und Blankendaal als Direktor des niederländischen Zulieferernetzwerks Brainport Industries und Direktor von SCSN.
Im Gespräch mit Niederlande Nachrichten erklären Ganser und Blankendaal, warum die beiden Initiativen so gut zusammenpassen und wie diese deutsch-niederländische Innovation die europäische Industrie auf eine neue Ebene heben kann.
Die Lieferkette muss also digitalisiert werden. Warum funktioniert sie nicht mehr so wie bisher?
Ganser: Unser Vizekanzler und Wirtschaftsminister Dr. Robert Habeck (Die Grünen) hat es wunderbar erklärt. „Allein ein Kabelbaum besteht aus durchschnittlich 5.000 Teilen. Als Hersteller ist es heute fast unmöglich, den Überblick über die globalen Lieferketten zu behalten und darüber hinaus zu wissen, welche Rohstoffe verwendet wurden.“

Die Coronapandemie und der blockierte Suezkanal haben gezeigt, dass wir so nicht mehr weitermachen können. Hersteller, die ihre eigenen Systeme entwickelt haben, haben erkannt, dass man diese Art von Herausforderungen nicht mehr allein bewältigen kann. Auch nicht, wenn man ein großer Akteur wie BMW, Mercedes oder Bosch ist. Wir müssen es gemeinsam tun.
Hersteller teilen ihre Daten nur ungern, warum tun sie es bei Catena-X?
Ganser: Alles dreht sich um Datenhoheit. Sie entscheiden, welche Daten Sie mit wem teilen. Wir schaffen ein offenes Netz, in dem Datenhoheit und Datensicherheit gewährleistet sind. Instabile Lieferketten in Verbindung mit gescheiterten firmeneigenen Projekten haben die Hersteller davon überzeugt, dass etwas passieren muss. Die Zeit ist also reif, jetzt zusammenzuarbeiten.
Gleichzeitig ist es aber auch äußerst spannend. Wir haben nur ein sehr kleines „Zeitfenster“, um alle Hersteller zu überzeugen. Wir müssen es gleich beim ersten Mal richtig machen, sonst steigen die Unternehmen aus und jeder fängt wieder für sich selbst neu an.
Wie kam es zur Zusammenarbeit zwischen Catena-X und SCSN?
Ganser: Der Wunsch nach einem effizienten Datenaustausch in der gesamten Lieferkette ist nicht neu. In den vergangenen Jahren wurde in mehreren Ländern unabhängig voneinander daran gearbeitet.
Blankendaal: Wir haben uns im Rahmen einer Handelsmission aus den Niederlanden in Deutschland kennengelernt. Vor drei Jahren haben wir unsere Geschichte in Bayern erzählt. Ein Zuhörer sagte sofort: Ich denke, Sie sollten einmal mit Oliver Ganser sprechen. Sie haben dieselbe Idee. Das haben wir getan und uns sofort gut verstanden.
Ganser: In unserer Anfangsphase haben wir festgestellt, dass SCSN bereits mit den ersten Partnern zusammenarbeitet. Dann müssen wir in Deutschland nicht etwas Ähnliches von Grund auf neu bauen. Wir haben geschaut, was wir von SCSN lernen können, um zu vermeiden, dass wir alle möglichen neuen Systeme entwickeln, die Unternehmen nebeneinander verwenden müssen.
Ziel ist es, die Ansätze aus Deutschland und den Niederlanden zu harmonisieren. Datenräume sollten keine separaten Silos sein, wir wollen Datenräume, die auf europäischer Ebene interoperabel sind.“
Europäische Anerkennung für Catena-X und SCSN
Der Automobilsektor ist komplex, wie digitalisieren Sie mit Catena-X die gesamte Wertschöpfungskette?
Ganser: Die Verbindung von OEMs mit First-Tier-Zulieferern wie Continental und Bosch ist der einfachste Schritt. Über drei Viertel ihres Umsatzes entfallen auf die Automobilindustrie. Bei Second- und Third-Tier-Unternehmen, die neben der Automobilindustrie auch an Medizintechnik-, Luft- und Raumfahrt- oder Agrartechnikunternehmen liefern, ist das schon anders.
Hier kommen Catena-X und SCSN zusammen. Diese KMU wollen nicht ständig das Netzwerk wechseln müssen. Es muss auf alle Branchen anwendbar sein. Catena-X und SCSN folgen den Vernetzungsprinzipien und -standards von GAIA-X und IDSA, damit wir die gesamte Wertschöpfungskette zusammenführen.
Blankendaal: Dieser breit angelegte und offene Ansatz hat bereits Anerkennung gefunden. Die Europäische Kommission hat sowohl Catena-X als auch SCSN als beispielhafte Projekte anerkannt (Leuchtturm), weil unser Datenstandard auch in Bereichen wie Luft- und Raumfahrt, Fotonik und Medizintechnik anwendbar ist.

Wir bauen ein interoperables, sicheres Standardnetz auf. Das macht uns zu weit mehr als nur einem Cloud-Service. Unser Wertversprechen besteht darin, dass wir die Strategie bestimmen, wie wir Informationen effizient und sicher miteinander austauschen wollen.
Warum sollte sich ein KMU bei Catena-X anschließen wollen?
Ganser: Catena-X soll verhindern, dass Großunternehmen und KMU auseinander wachsen. Ein OEM beschäftigt leicht tausend Datenspezialisten, nennen wir sie Datengurus. Unternehmen mit 20 bis 200 Mitarbeitern haben nicht immer die Gurus mit den richtigen Fähigkeiten, Kapazitäten und Ressourcen im Haus.
Für KMU ist es daher nicht so einfach, bei der Digitalisierung ihres Betriebs Schritt zu halten. Dank Catena-X können sie daran teilhaben, mit fertigen Lösungen. Aber genau wie wir die anderen OEMs überzeugen müssen, haben wir nur eine Chance, die europäischen KMU von Catena-X zu überzeugen. Wir müssen es für alle gleich richtig machen.
Und dafür haben wir gute Argumente. Catena-X ist nicht „top-down“ – also von oben nach unten. Das Teilen von Daten läuft in beide Richtungen und ermöglicht kleineren Unternehmen, sich besser mit OEMs zu vernetzen.
Was bedeutet eine digitale Lieferkette für die Geschäftsmodelle?
Ganser: Bessere Daten ermöglichen auch neue Geschäftsmodelle und eine bessere Positionierung. Nehmen wir zum Beispiel Unternehmen, die „Manufacturing as a Service“ anbieten. Diese erhalten die Chance, eine viel größere Wirkung zu entfalten. Vielleicht hatten Sie früher 100 Kunden. Über dieses Netzwerk können Sie Ihr Angebot wesentlich bekannter machen.
Das ist auch für die Kreislaufwirtschaft sehr wichtig. Ein Recyclingunternehmen kann sich nun in die Lieferkette einklinken und über dieses Ökosystem neue Geschäftsbeziehungen knüpfen. Beispiele wie diese zeigen, dass neue Wertpositionen und Kooperationsmodelle für die europäische Industrie und weltweit möglich sind. Mit besseren offenen Daten eröffnen wir neue Möglichkeiten.
Wie ist das in anderen Branchen?
Blankendaal: Nehmen wir einmal die Lieferkette von ASML. Sie bauen sehr komplexe Maschinen und benötigen für ihre Planung alle Daten von Lieferanten in Echtzeit. Das gilt auch für andere Branchen.
Diese umfassende Bedeutung für die Digitalisierung der Lieferkette wird auch von der Europäischen Kommission anerkannt. Wir sind jetzt ein europäisches Zentrum für digitale Innovation für KMU. Gemeinsam mit Fraunhofer in Stuttgart arbeitet SCSN an einer KI-Roadmap für digitale Fabriken. Wir sind noch lange nicht am Ziel, aber wir sind auf dem richtigen Weg.
Deutsche und Niederländer arbeiten gerne pragmatisch zusammen
Würden Sie sagen, dass die deutsche und die niederländische Industrie die europäische Industrie auf ein neues Niveau bringen?
Blankendaal: Absolut.
Ganser lacht und formt mit seinen Händen vor dem Bildschirm ein Herz.
Ganser: Wir haben uns dieses Jahr auf der Hannover Messe getroffen. Als sich herausstellte, dass unsere Initiativen so gut zusammenpassten, fragten wir uns: Warum geschieht das eigentlich?
Die Schlussfolgerung ist einfach. Wir haben eine ähnliche Denkweise. Die niederländische und deutsche Art und Weise, Geschäfte zu machen, ist sehr pragmatisch, ohne zu viel Politik. Und die Niederlande haben einen sehr guten Markt für die Einführung neuer Innovationen. Und die Fähigkeiten sind vorhanden, um sie gut umzusetzen.“
Was ist die Stärke von Catena-X und SCSN?
Blankendaal: Es ist „bottom-up“ – also von unten nach oben. Dies kommt aus der Industrie selbst, das sind keine politischen Pläne, die von oben auferlegt werden.
Ganser: Wir erhalten viel Unterstützung aus der Politik, siehe auch die Erklärung von Minister Habeck. Das spornt uns an, uns noch mehr dafür einzusetzen, dass dies in unserer Branche geschieht.
Wie sorgen Sie dafür, dass die europäische Industrie dabei mitmacht?
Blankendaal. Das ist in der Tat nicht einfach. Wir sind als Leuchtturmprojekt ausgezeichnet worden. Wir haben jetzt unten angefangen, das ist der dunkelste Teil des Leuchtturms.
Die Zukunftsvision von SCSN ist, dass das Netzwerk als Datenstandard für ein digitales Fabriknetzwerk, das durch künstliche Intelligenz verbunden ist, eine Vorreiterrolle spielt. Ein widerstandsfähiges Netzwerk, das sich schnell anpassen und selbst organisieren kann. Unsere Herausforderung besteht darin, in den Niederlanden, die für uns die Basis darstellen, zu skalieren.
Ganser. Wir haben im August 2021 begonnen und wollen im ersten Quartal 2023 „live“ gehen. Zwölf Monate nach dem Start wollen wir 1.000 teilnehmende Unternehmen als Beweis dafür haben, dass es funktioniert. Catena-X bereitet sich derzeit auf die Durchführung von Betatests vor, um Daten auszutauschen. Außerdem entwickeln wir Software-Kits für Dritte, die damit ihre eigene Software für unsere Geschäftsprobleme entwickeln und anbieten können. Auf diese Weise wird Catena-X noch stärker, weil die Entwicklung von den Experten vorangetrieben wird, die wissen, wie es am besten funktioniert.
Über Brainport Industries
Brainport Industries ist ein Zusammenschluss von Tier-1-, Tier-2- und Tier-3-Hightech-Lieferanten. Gemeinsam führen sie Projekte in den Bereichen Technologie, Markt und Menschen durch, um die Innovationskraft ihrer Mitglieder zu stärken. John Blankendaal ist Geschäftsführer von Brainport Industries und Direktor von SCSN.